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E-Commerce-Projekt gerettet – mit ungewöhnlichen Maßnahmen

Bisher verkaufte unser Kunde Lebensmittel über seinen Onlineshop, die im eigenen Lager gehalten und mit eigenen Transportfahrzeugen an die Endkunden ausgeliefert wurden. Der hohe Personal- und Logistikaufwand limitierte diese Form der Bestellabwicklung auf Liefergebiete mit hoher Bevölkerungsdichte und kurzen Transportwegen. Das alte Geschäftsmodell stieß an seine Grenzen, da sich die Kosten bei gleicher Bestellabwicklung nicht weiter reduzieren ließen. Nur die Einwohner von Millionenstädten kamen daher in den Genuss ihren Wocheneinkauf im Onlineshop des Kunden zu erledigen. Wie sollte also der Sprung in ländliche Gebiete gelingen?

Eine neue Form zur logistischen Abwicklung von Bestellungen war des Rätsels Lösung. Beim sogenannten „Dropshipment“ lagert der Betreiber des Onlineshops die logistische Abwicklung einer Bestellung an einen Fremdlieferanten aus. Dieser übernimmt die komplette logistische Abwicklung einer Bestellung und verschickt die bestellte Ware direkt aus seinem Lager an den Endkunden. Der Betreiber des Onlineshops trägt im Gegensatz hierzu keinerlei Personal- und Logistikkosten für Kommissionierung und Versand. Zusätzlich kann das Sortiment im Onlineshop erweitert werden: Viele Artikel, die bislang wegen hoher Lager- und Versandkosten zu wenig Marge erzielt hätten, können nun ins Angebot aufgenommen werden.

Eingriff am offenen Herzen

Auf den ersten Blick schien die Einführung von Dropshipping in die IT-Landschaft keine besondere Herausforderung zu sein. Auf den zweiten Blick entpuppte sich das Vorhaben jedoch als Eingriff am offenen Herzen.

Der Lebensmittel-Onlineshop durfte jedem Endkunden nur noch das in seinem Liefergebiet verfügbare Sortiment anzeigen. Das größte Kopfzerbrechen bereiteten uns jedoch Bestellungen mit gemischten Warenkörben, welche Produkte aus dem Eigen- und Fremdlager enthalten. Im Falle von gemischten Warenkörben wird die Ware aus dem kundeneigenen Lager und dem Fremdlager ausgeliefert. Die Bestellungen, der Bestellstatus, Rechnungen etc. müssen über die IT-Systeme des Kunden und des Lieferanten hinweg korrekt verarbeitet werden. Damit nicht genug: Unterschiedliche Bedingungen für Widerruf und Retoure von Bestellungen durch den Endkunden mussten berücksichtigt und die Berechnung der Versandkosten überarbeitet werden. Die Versandkosten sind bei gemischten Warenkörben höher als bei „einfachen“ Warenkörben, die nur aus einem Lager bedient werden.

Mit ungewöhnlichen Maßnahmen aus der Krise

Das „Leuchtturm-Projekt“ mit unternehmensweiter Strahlkraft war zum Erfolg verdammt. Kaum eine Woche verging ohne einen unternehmensweiten Newsletter, eine Rund-Mail oder einen Vortrag zum aktuellen Stand des Vorhabens. Das Projekt stand stellvertretend für die Leistungsfähigkeit der gesamten IT-Abteilung. Der CIO des Kunden erwartete daher den reibungslosen Start der Dropshipment-Abwicklung im Lebensmittel-Onlineshop pünktlich zu einem in Beton gegossenen Wunschtermin.

Mitten in der Hochphase des Projekts übernahm Xenium die IT-Projektleitung. Schnell deckten wir folgende Schwachstellen in der Projektplanung und -abwicklung auf:

  • Eine klare Unterscheidung zwischen Muss-Anforderungen und Nice-to-haves fehlte. Zentrale Systemanpassungen wurden teilweise verspätet gestartet.
  • Des Weiteren fehlten Überlegungen zu einem „minimum viable product“: Einem minimalen Set an Features, welches produktiv einsetzbar gewesen wäre und aus Sicht des Endkunden einen Nutzen schafft. Denkbar wäre ein früher Start mit einer abgespeckten Dropshipping-Abwicklung gewesen. Diese hätte den Kunden ausschließlich Warenkörbe erlaubt, die Produkte aus dem Eigen- oder dem Fremdlager beinhalten (und nicht aus beiden Lagern).

Ohne MVP-Ansatz steuerte das Projekt auf einen „Big Bang“ zu. Bedenklich nahe am Projektende sollte die komplette Software-Entwicklung getestet, potenzielle Fehler behoben und der Rollout in allen beteiligten Systemen durchgeführt werden. Zwischen Anforderungsdefinition und Abnahmetest lag ein ganzes Jahr Entwicklungsarbeit. Das Risiko für ein böses Erwachen kurz vor dem GoLive-Termin war hoch und der ehrgeizige Wunschtermin des Top-Managements hing wie ein Damokles-Schwert über dem Projektteam.

Wir beseitigten sofort die gefundenen Schwachstellen: Zunächst priorisierten wir noch nicht umgesetzte Anforderungen; das Projektteam entwickelte alle technischen Muss-Anforderungen und fokussierte sich erst danach auf funktionale, endkunden-relevante Muss-Anforderungen. Auf dieser Grundlage diskutierten wir schließlich auch die Möglichkeit einer Dropshipment-Abwicklung ohne „Nice-to-haves“. Nach etwas Überzeugungsarbeit akzeptierte der Auftraggeber diese Option als Notfallplan.

Damit der Notfallplan schnell in der Schublade verschwinden konnte, ergriff der Xenium-IT-Projektmanager eine  ungewöhnliche Maßnahme: Er forderte die Fachabteilungen zur schnellstmöglichen Erstellung der Abnahmetestfälle auf, obwohl die Testphase erst einige Monate später stattfinden sollte. Dadurch verfügte das Projektteam bereits während der Entwicklungsphase über ein vollständiges Set mit Testfällen, welches später für die Abnahme des Projekts verwendet werden sollte.

Die Entwicklung profitierte davon in vielerlei Hinsicht. Zum einen testete die IT bereits umgesetzte Funktionalität zeitig. Zum anderen wurden Abweichungen zwischen Testfällen und Anforderungen aufgedeckt und früh mit den Fachbereichen geklärt. Das IT-Projektteam führte aufgrund der hohen Komplexität letztlich sogar einen vollständigen Testdurchlauf durch – lange vor dem offiziellen Abnahmetest durch die Fachabteilung. Trotz des hohen Zusatzaufwands für das Projektteam zahlte sich diese Maßnahme am Ende aus. Hätte man die Bugs aus diesem Testlauf erst bei den Abnahmetests entdeckt, hätten diese nicht rechtzeitig bis zum GoLive behoben werden können.

Da das Team bereits an seine Belastungsgrenzen stieß, beauftragte der Xenium-Projektmanager einen externen Dienstleister, um den Zusatzaufwand für das Testen bestmöglich auszugleichen. Die Komplexität der Tests forderte dem Team alles ab. Immerhin muss eine Vielzahl verschiedener IT-Systeme des Kunden und des Dropshipment-Lieferanten interagieren, um eine einzelne Bestellung im Onlineshop korrekt zu verarbeiten. Zudem ist der Lebensmittel-Onlineshop nicht nur per Desktop-Browser, sondern auch über mobile Endgeräte erreichbar. Durch Outsourcing an einen Crowd-Testing-Anbieter holten wir die dringend benötigte Man- bzw. Woman-Power zur Durchführung der Tests an Bord. Die zeitraubende Testplanung, Beschaffung von mobilen Testgeräten etc. übernahm der externe Dienstleister und entlastete damit das Team.

Schluss mit Bauchgefühl

Alle genannten Maßnahmen leisteten am Ende ihren Beitrag zum Projekterfolg. Vor allem aber erzeugten wir ein „Wir-Gefühl“ im Projektteam. Vor der Übernahme durch Xenium war der Fortschritt im Projekt nicht messbar. Die Frage „wie liegen wir im Zeitplan“ beantwortete das Projektteam mit Verweis auf das eigene Bauchgefühl als „schlecht“. Daher schufen wir Transparenz bzgl. des Projektfortschritts. Der Xenium-Projektmanager visualisierte den Status der Testfälle und der offenen Entwicklungs-Tickets in einem grafischen Dashboard. Endlich war Schluss mit Bauchgefühl: Der Aufwand bis zum GoLive konnte mit der verfügbaren Kapazität abgeglichen werden und führte letztlich zu den oben beschriebenen Maßnahmen.

Die Visualisierung des Projektstatus erwies sich aber vor allem deshalb als Game Changer, weil das Projektteam nun den gemeinsamen Fortschritt live mitverfolgen konnte. Das neue Dashboard war der Startpunkt für jedes Daily Meeting. Das Team hatte nun einen sichtbaren Ansporn und ein klares Ziel vor Augen: den Entwicklungsrückstand schnellstmöglich aufzuholen. Daraus entstand ein Motivationsschub, der in Überstunden messbar war und die erste Dropshipment-Bestellung eines Endkunden pünktlich zum Wunschtermin ermöglichte.


Titelbild: Nataliya Vaitkevich von Pexels und Tara Clark von Pexels