Klassisches Projektmanagement im Wasserfall war jahrelang der Standard in der öffentlichen Verwaltung. Doch der Wunsch nach Veränderung ist da. Unser Autor zeigt, wie die Agilität ins Projekt einzog.
Die Rechte, Pflichten und Aufgaben der öffentlichen Verwaltung sind in Deutschland durch Gesetze festgelegt. Das betrifft nicht nur die Kernaufgaben der Verwaltung, sondern auch die Kommunikation zwischen Behörden und nachgelagerten Organisationen.
Durch eine Gesetzesänderung wurden die in diesem Projekt betroffene öffentliche Verwaltung und externe Partner verpflichtet, in festgelegten Fachdomänen die Kommunikation zu digitalisieren und auf Papier zu verzichten. Das betraf den öffentlichen Träger und mehr als 100 unabhängige externe Partner.
(Agile) Herausforderungen in Behörden
Die besagte Verwaltung selbst arbeitet seit längerem daran, agiles Vorgehen nach Scrum in Kombination mit DevSecOps-Teams zu etablieren. Im Vorfeld des Projekts wurden mithilfe der Domain-Driven-Design-Methodik (DDD) die Bounded Contexts definiert. Ziel war es, die Teams möglichst voneinander zu entkoppeln und unabhängiges Arbeiten und damit perspektivisch unabhängige Deployments zu ermöglichen. Ein Bounded Context ist ein klar von den anderen Kontexten abgetrennter fachlicher Bereich, in dem eine gemeinsame Sprache (sog. ubiquitous language) gesprochen wird. Pro Bounded Context wurde ein Microservice gebaut. Im Projekt selbst wurde dann nach Scrum vorgegangen, wobei die Anforderungen und daraus folgend die User Storys iterativ entwickelt wurden.
Das stellt eine öffentliche Verwaltung vor verschiedenen Herausforderungen:
Der wesentliche Unterschied zwischen Scrum und dem klassischen Wasserfallvorgehen ist das Management des Umfangs. Bei gesetzlich vorgegebenen Zielen und einem festgelegten GoLive-Termin (der Tag, an dem das Gesetz in Kraft tritt) ist es nicht ohne weiteres möglich, Umfang zu streichen.
In einer klassischen Verwaltungsstruktur gibt es viele betroffene Stakeholder und Nutzer:innen, für die eine genaue Planbarkeit wichtig ist. Da ist ein zweiwöchiges Planungsfenster wie in Scrum ungewohnt und entspricht nicht der benötigten Planbarkeit. So mussten in der Verwaltung zum Beispiel ca. 20.000 Nutzer:innen geschult werden. Hierfür wird ein entsprechender Vorlauf benötigt.
In der Verwaltung werden sehr hohe Datenmengen ausgetauscht (beispielsweise legt einer der im Projekt entwickelten Services mehr als 100 Millionen Dokumente jedes Jahr in den Akten ab) – diese wirken sich direkt auf das Leben von Bürger:innen aus. Daher sind Fehler doppelt schmerzhaft: Aufgrund der hohen Datenmenge können Mitarbeiter:innen nicht manuell eingreifen und korrigieren und die Auswirkungen sind direkt für die Bürger:innen spürbar.
Management von Scope
Wenn der GoLive-Termin fest vorgegeben ist und die Teamgröße ohne Effizienzverluste nicht beliebig skaliert werden kann, sieht Scrum das Management von Scope als Lösung für in der Regel aufkommende Knappheit vor. In diesem Fall waren allerdings grundlegende Funktionalitäten gesetzlich vorgegeben. Diese Anforderungen und Stories wurden durch den Fachbereich einheitlich als „Prio 1“ klassifiziert. Alle weiteren Anforderungen wurden als „Prio 2“ (erforderlich für den Projekterfolg) oder „Prio 3“ (nice-to-have) einsortiert. Damit waren alle Prio 2- und Prio 3-Anforderungen Verhandlungsmasse und im Projekt konnte darüber diskutiert werden, ob diese wirklich für den GoLive nötig sind.
In den Diskussionen stellte sich heraus, dass Anforderungen vorhanden waren, die zwingend für den GoLive erforderlich waren, obwohl sie „nur“ als Prio 2 klassifiziert waren. Das liegt daran, dass der Gesetzgeber beispielsweise vorschreibt, dass die Kommunikation mit den externen Partnern digital und automatisiert zu erfolgen hat. Ob aber innerhalb der Verwaltung Verbesserungen durch mehr Automatisierung geschaffen werden, ist nicht gesetzlich geregelt. Aufgrund der hohen Menge und mit Blick auf die Zukunftsfähigkeit der Verwaltung waren für den Fachbereich die Automatisierungsanforderungen allerdings genauso relevant für den GoLive – aber im gängigen Klassifikationsschema eben nur Prio 2 und damit auf den ersten Blick vermeintlich vernachlässigbar.
Um ein einheitliches Verständnis zu gewinnen, was benötigt wird und was nicht, haben der Fachbereich und der PO ein Anforderungsbacklog aufgebaut. In diesem Backlog wurden aber nicht nur die Anforderungen des Fachbereichs aufgenommen. Auch das Scrum Team hat sich zusammengesetzt und überlegt, welche technischen Themen unbedingt zum GoLive vorhanden sein müssen – schließlich war das Team als DevSecOps-Team unterwegs und musste in der Lage sein, die Services in der Produktion zu betreiben. Gemeinsam mit dem Fachbereich wurden die Anforderungen in eine abgestimmte Reihenfolge gebracht und eine Linie definiert, was bis zum GoLive unbedingt benötigt wird. Gegen diesen Umfang wurde das Fortschrittscontrolling durchgeführt, das auch für die Planbarkeit der Umsetzung wichtig ist.