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Agiles Requirements Engineering für einen Online-Vertriebskanal

Case Study

Für den Fahrzeugvertrieb unseres Kunden sollte zentral ein neuer Online-Marktplatz entwickelt werden, der in ganz Europa ausgerollt und in den Ländern von den lokalen Vertriebsorganisationen betrieben wird. Dazu wurde ein Programm aufgesetzt, das die Funktionen Strategie, Fachkonzeption, IT, Legal, Vertrieb, Training und Financial Services abdeckt. Der Pilotbetrieb sollte innerhalb eines Jahres starten.

Da das Geschäftsmodell durch die Zusammenarbeit verschiedener Unternehmensfunktionen erarbeitet werden musste und man die üblichen langen Konzeptionsphasen vermeiden wollte, sollte gleichzeitig agiles Arbeiten eingeführt werden.

Vielfältige Herausforderungen

Eine erste Herausforderung bestand darin, die unterschiedlichen Sichten der zentralen Organisationseinheiten zusammenzuführen, gleichzeitig den Pilotmarkt zu involvieren und dabei den Scope auf einen von der Entwicklung leistbaren Umfang zu beschränken. Die neuen digitalisierten Prozessanteile mussten zudem in Einklang gebracht werden mit den weiterhin analogen Anteilen in den Autohäusern.

Für den Go-Live des Piloten mussten innerhalb kurzer Zeit die beteiligten Systeme in der Zentrale koordiniert und eine fachliche Abnahme durch den Pilotmarkt herbeigeführt werden. Der Betrieb im Pilotmarkt zeigte schnell auf, dass die Daten- und Prozessqualität der bestehenden Datenversorgungssysteme den Anforderungen an einen internationalen Rollout und Betrieb nicht genügen würde. Um dieser Erkenntnis zu begegnen, sollte ein neues Datenversorgungssystem entwickelt werden. Um diese Änderung zu stemmen, fiel die Entscheidung, die cross-funktionale Projektgruppe auf ein neues Zusammenarbeitsmodell auf Basis von SAFe® zu setzen.

Unser Beitrag

Xenium übernahm kurz nach Programmbeginn die Fachkonzeption und das Requirements Engineering. In der frühen Phase entwickelte unser Projektteam zusammen mit dem Business Owner ein neues Modell für die iterative Abstimmung des Scopes und der Ausrichtung der zahlreichen Stakeholder auf eine gemeinsame Vision. Diese stellte ein in kurzen Zyklen geliefertes Spezifikationsdokument auf Basis von Use Cases dar – eine Weiterentwicklung der etablierten Wasserfall-basierten Ergebnistypen hin zu einem Format, das ein agileres Vorgehen unterstützen sollte. Über die Zeit entwickelten wir zudem weitere Kommunikationsformate für die Customer Journey, um den Informationsbedürfnissen der verschiedenen Adressaten gerecht zu werden. So entstanden:

  • für die Vertriebsorganisationen ein klickbares Flow Chart;
  • für die Rechtsabteilung eine schriftliche Kurzfassung, strikt getrennt nach Kunden- und Händleraktivitäten;
  • für den Entwicklungsdienstleister Akzeptanzkriterien für die Umsetzung von Use Cases – inklusive fachlich kohärenter „Slices“, die inkrementell entwickelt und getestet werden konnten.

Nach etwa einem Jahr Konzeption und Entwicklung konnte der Pilotbetrieb begonnen werden. Xenium übernahm hier die Kommunikation der fachlich und technisch bedingten Änderungen im Pilotmarkt und stand als Ansprechpartner für Fragen und Anliegen zur Verfügung. Gleichzeitig sicherten wir die methodische und inhaltliche Qualität der Abnahmetests. Hierzu moderierten wir die neu eingeführten Test-Retrospektiven, welche die System Owner für einen konstruktiven Austausch zusammenbrachten. Wir erstellten die Test Objectives für den operativen Test und bildeten den zentralen Ansprechpartner für Reviews der Testfälle sowie die Abstimmung von Testergebnissen.

Mit den Erkenntnissen aus dem Pilotbetrieb und der Umstellung auf das SAFe®-basierte Vorgehen übernahm Xenium das Product Ownership für das neu geschaffene Requirements-Team, das die Expertise für Requirements Engineering, Produktdatenexpertise, und Know-how der Vertriebsorganisationen bündelte. Um die verbliebenen Anforderungen aus dem vorhergehenden Arbeitsmodell nicht zu verlieren, entwickelten wir gemeinsam mit dem Product Management einen Ideation-Prozess, der den Anforderungsstellern die Konkretisierung ihrer Ideen hin zur Umsetzungsplanung und -gestaltung transparent und nachvollziehbar machen sollte. Mit der Ablösung der zuvor notwendigen Spezifikation des Gesamtprozesses durch ein sukzessiv fortgeschriebenes Programm-Backlog blieb ein letzter wichtiger Meilenstein: die Umstellung der ehemaligen Spezifikation (was sollte das Produkt tun) auf eine Dokumentation (was tut das Produkt tatsächlich) mit dem zugehörigen Fortschreibungsprozess parallel zur Entwicklung.

Neben der Vertrautheit mit klassischen und agilen Methoden konnte in diesem Fall auch unsere langjährige Vertrautheit mit den kulturellen Eigenarten dieses komplexen Projektumfelds einen wichtigen Beitrag für den großen Change-Prozess leisten, den die Gesamtorganisation im Verlauf dieses Projektes durchlief. Es ist immer wieder spannend zu erleben, wie wichtig es ist, die Bedürfnisse der Organisationen und die Unterschiedlichkeiten ihrer Einheiten zu respektieren und einen konstruktiven Zugang zu finden, der eine fruchtbare Zusammenarbeit fördert.

Eine gelungene Digitalisierung mit nachhaltiger Wirkung

Das Ergebnis auf den ersten Blick: Eine gelungene Digitalisierung des Fahrzeugverkaufs durch einen funktionierenden Online-Store mit einer modernen, am Anwendungsfall orientierten Datenversorgung.

Tatsächlich wurde in dem Projekt aber noch viel mehr erreicht, wenngleich weniger offensichtlich: Eine Reihe von neuen Formaten, Methoden und Tools, um eine engere, agilere Zusammenarbeit auch für die Weiterentwicklung und zukünftige Projekte zu etablieren:

  • Ein Mix aus verschiedenen Formaten, welche die Customer Journey adressatengerecht aufbereiten, inklusive einer nachvollziehbaren Umstellung von klassischen, Wasserfall-basierten Anforderungsdokumenten auf moderne, der agileren Arbeitsweise gerecht werdende Formate.
  • Neue Formen für die bereichsübergreifende Zusammenarbeit, sei es im Requirements Engineering oder im Ende-zu-Ende-Test.
  • Ein leichtgewichtiger Ideation-Prozess, der Stakeholder besser involviert und eine Nachvollziehbarkeit der Umsetzung von Ideen in konkrete Anforderungen ermöglicht.
  • Ein etabliertes Vorgehen und ein Format zur Erstellung einer aktuellen Systemdokumentation parallel zum Entwicklungsprozess, welche das tatsächliche Systemverhalten abbildet.

Titelbild: Ryan Searle von Unsplash